Keine Chance so wie bisher
Es war keine glasklare Erkenntnis, am Ende keine wirklich rationale Entscheidung. Eher eine sich permanent steigernde und beschleunigende Verstetigung und Verfestigung eines Gefühls, das er dann zum Schluss nicht mehr kontrollieren konnte, das ihn fest im Griff hielt, ihn am Hals packte, ihm die Kehle zudrückte, ihn schüttelte und würgte. Oder, und das war noch häufiger, ihn aus Ausweglosigkeit bis ins Koma sedierte, ihn in quälende Trägheit hüllte, ihn in die Ecke zum Schlafen schickte, ihn teilnahmslos und lethargisch die Decke über den Kopf ziehen ließ, auf dass die Welt an ihm vorbeizöge, Ruhe und süßer Tod, sanft und lähmend.
Schließlich zog er die Konsequenzen aus der Sinnlosigkeit seiner bisherigen Existenz und gab den Job als Detektiv auf. Er musste es einfach finden. Aber so wie bisher hatte er keine Chance.
Freude und Fragezeichen
„Nein, ich bin dir nicht böse, dass du mich als Täterin entlarvt hast“, schrieb sie in einem ihrer ersten Briefe aus dem Knast. „Du hast nur ganz kurz Eigen-schaften von dir die Kontrolle übernehmen lassen, von denen du gar nicht weißt, dass du sie hast.“ Über den ersten Satz freute sich Hermann, den zweiten verstand er nicht. Fand ihn aber irgendwie spannend und schickte deshalb ein paar verbale Fragezeichen zurück. Bekam eine Antwort und antwortete darauf. Bekam wieder eine Antwort.
Ein paar Schritte in ein neues Leben
Es waren nur ein paar Schritte vom Tor zum Parkplatz, und sie ging schnell. Zuvor hatte sie, nachdem das Tor sich hinter ihr geschlossen hatte, ein, zwei Minuten stillgestanden, unbeweglich, in sich gekehrt, die Augen geschlossen. Wahrscheinlich war der Film der letzten Jahre in ihr abgelaufen, Hermann wusste es nicht. Er öffnete die Tür, sie glitt auf den Beifahrersitz, schob die Tasche zwischen den Sitzen nach hinten. Sie schauten sich an, unsicher, hoffnungsvoll. Tasteten sich mit Blicken ab, die nirgendwo lange verweilen konnten, ständig hin- und herhuschten. Und lernten, dass Berührung größer als Blick und Blick größer als Brief ist.
Andere Sphären
Hermann stand ganz hinten im Saal, als das Urteil verkündet wurde. Sieben Jahre wegen Totschlags, das lag im Rahmen. Er hatte nie verstanden, weshalb sie es getan hatte. Bringt man jemanden um, weil einem seine Denke um den Verstand zu bringen droht? Und bezeichnet das dann noch als Notwehr?
Auf alle Fälle aber bewunderte er die Gelassenheit, mit der sie das Urteil zur Kenntnis nahm. Als würde sie sich in anderen Sphären von Zeit und Raum bewegen.
Hermann und Haarmann
Krachend ließ Kriminaloberrat Haarmann seine Pranke auf Hermanns Schulter krachen. „Echt Klasse“, lispelte er mit seiner hohen Stimme. „Vielen Dank, HS. Ohne dich hätten wir sie so schnell nicht überführt, vielleicht sogar überhaupt nicht. Jetzt ist die Sache klar, sie hat eben auf dem Stuhl im Verhörraum gestanden.“
Die Nachricht vom Tod
Er brauchte nicht die ‚Zigarette danach‘, er brauchte immer die ‚Nachrichten danach‘. Als sie sich voneinander lösten, wälzte er sich auf die Bettseite, langte mit dem rechten Arm auf das Nachttischschränkchen und griff sich die Fernbedienung. Und mit einem Schlag war seine entspannte Gelöstheit weg. Der Komponist war tot. Und die Welt ärmer. In der Nacht, in der Hermann so viel reicher geworden war.
Um den und ohne den Verstand
Es reichte. Sie hielt es nicht mehr aus. Kochte vor Wut. Raste vor Zorn. Sah nur noch flimmernde, blutrote Kreise vor den Augen, wischende Schlieren. Was für ein Honk! Mit seinem Einzeller-Intellekt. Seiner gradlinigen Stupidität. Seiner sturen Denke. Denke? Ein Stein war intellektuell beweglicher. Der Typ brachte sie um den Verstand, darum machte sie dasselbe mit ihm ohne den Verstand. Schnell. Präzise. Unerbittlich.
Das Ende des letzten Briefes
Wahrscheinlich war es ihr letzter Brief; in einigen Tagen sollte sie entlassen werden, sie hatte etwas mehr als der Hälfte der Strafe abgesessen. Sie hatten sich in letzter Zeit immer intensiver über Bücher und Filme ausgetauscht und festgestellt, dass sie viele Gemeinsamkeiten hatten. Beide fanden sie zum Beispiel Pulp Fiction großartig. Um der Zensur zu entgehen, nannten sie ihn nur den „Film mit den vier Chaptern“. Hermann schwärmte von den Dialogen, den Schauspielern, und, wie er es der potentiellen Mitleser wegen nennen musste, der Qualität der „Actionszenen“. Sie hingegen benutzte den Film nur als Ausgangspunkt für ihr intellektuelles Konzept, das sie sich inzwischen erarbeitet hatte, und in dem Begriffe wie „multiperspektivisch“, „Parallelität“, „Virtuosität beim permanenten Wechsel von Zeitebenen, Handlungssträngen und Schauplätzen“, „exponentielles Denken“ und „Relativierung von logischen Zeitfolgen“ vorkamen.
Hermann hatte im Laufe ihrer Brieffreundschaft gelernt, ihre Gedankengänge besser zu verstehen und sich auf sie zu einstellen. Das Ende ihres Briefes aber kam überraschend und war das Ende seiner Welt, so wie er sie bis jetzt kannte: „Und das alles hast auch du zu einem Gesamtkunstwerk zusammengeführt, als du mich damals überführt hast. Für einen kurzen Moment, diesen einen Geistesblitz, hast du dich intellektuell von dem linearen Denken befreit, das dich ansonsten so behindert und bindet.“
Ein weiterer Blitz durchzuckte Hermann und schnitt ihn in Stücke. In einer Nanosekunde brach alles zusammen, alles Wissen, alle Erfahrungen, alles, was ihn bis jetzt definiert hatte. In der gleichen Zeitspanne baute sich etwas Mächtiges auf, groß und stark, noch ein bisschen unscharf. Es fühlte sich unendlich gut an. „Vielleicht kann sie mir helfen, es zu finden“, dachte er
Epilog (auch Prolog)
Kein Fortschritt ohne kleine Rückfälle: Gelegentlich wählte Hermann immer noch die 54732816, der Klarheit wegen.