Die delineare Zeit, acht Chapter …

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Keine Chance so wie bisher

Es war kei­ne glas­kla­re Erkennt­nis, am Ende kei­ne wirk­lich ratio­na­le Ent­schei­dung. Eher eine sich per­ma­nent stei­gern­de und beschleu­ni­gen­de Ver­ste­ti­gung und Ver­fes­ti­gung eines Gefühls, das er dann zum Schluss nicht mehr kon­trol­lie­ren konn­te, das ihn fest im Griff hielt, ihn am Hals pack­te, ihm die Keh­le zudrück­te, ihn schüt­tel­te und würg­te. Oder, und das war noch häu­fi­ger, ihn aus Aus­weg­lo­sig­keit bis ins Koma sedier­te, ihn in quä­len­de Träg­heit hüll­te, ihn in die Ecke zum Schla­fen schick­te, ihn teil­nahms­los und lethar­gisch die Decke über den Kopf zie­hen ließ, auf dass die Welt an ihm vor­bei­zö­ge, Ruhe und süßer Tod, sanft und läh­mend.
Schließ­lich zog er die Kon­se­quen­zen aus der Sinn­lo­sig­keit sei­ner bis­he­ri­gen Exis­tenz und gab den Job als Detek­tiv auf. Er muss­te es ein­fach fin­den. Aber so wie bis­her hat­te er kei­ne Chance.


Freude und Fragezeichen

„Nein, ich bin dir nicht böse, dass du mich als Täte­rin ent­larvt hast“, schrieb sie in einem ihrer ers­ten Brie­fe aus dem Knast. „Du hast nur ganz kurz Eigen-schaf­ten von dir die Kon­trol­le über­neh­men las­sen, von denen du gar nicht weißt, dass du sie hast.“ Über den ers­ten Satz freu­te sich Her­mann, den zwei­ten ver­stand er nicht. Fand ihn aber irgend­wie span­nend und schick­te des­halb ein paar ver­ba­le Fra­ge­zei­chen zurück. Bekam eine Ant­wort und ant­wor­te­te dar­auf. Bekam wie­der eine Antwort.


Ein paar Schritte in ein neues Leben

Es waren nur ein paar Schrit­te vom Tor zum Park­platz, und sie ging schnell. Zuvor hat­te sie, nach­dem das Tor sich hin­ter ihr geschlos­sen hat­te, ein, zwei Minu­ten still­ge­stan­den, unbe­weg­lich, in sich gekehrt, die Augen geschlos­sen. Wahr­schein­lich war der Film der letz­ten Jah­re in ihr abge­lau­fen, Her­mann wuss­te es nicht. Er öff­ne­te die Tür, sie glitt auf den Bei­fah­rer­sitz, schob die Tasche zwi­schen den Sit­zen nach hin­ten. Sie schau­ten sich an, unsi­cher, hoff­nungs­voll. Tas­te­ten sich mit Bli­cken ab, die nir­gend­wo lan­ge ver­wei­len konn­ten, stän­dig hin- und her­husch­ten. Und lern­ten, dass Berüh­rung grö­ßer als Blick und Blick grö­ßer als Brief ist.


Andere Sphären

Her­mann stand ganz hin­ten im Saal, als das Urteil ver­kün­det wur­de. Sie­ben Jah­re wegen Tot­schlags, das lag im Rah­men. Er hat­te nie ver­stan­den, wes­halb sie es getan hat­te. Bringt man jeman­den um, weil einem sei­ne Den­ke um den Ver­stand zu brin­gen droht? Und bezeich­net das dann noch als Notwehr?

Auf alle Fäl­le aber bewun­der­te er die Gelas­sen­heit, mit der sie das Urteil zur Kennt­nis nahm. Als wür­de sie sich in ande­ren Sphä­ren von Zeit und Raum bewegen.


Hermann und Haarmann

Kra­chend ließ Kri­mi­nal­ober­rat Haar­mann sei­ne Pran­ke auf Her­manns Schul­ter kra­chen. „Echt Klas­se“, lis­pel­te er mit sei­ner hohen Stim­me. „Vie­len Dank, HS. Ohne dich hät­ten wir sie so schnell nicht über­führt, viel­leicht sogar über­haupt nicht. Jetzt ist die Sache klar, sie hat eben auf dem Stuhl im Ver­hör­raum gestanden.“


Die Nachricht vom Tod

Er brauch­te nicht die ‚Ziga­ret­te danach‘, er brauch­te immer die ‚Nach­rich­ten danach‘. Als sie sich von­ein­an­der lös­ten, wälz­te er sich auf die Bett­sei­te, lang­te mit dem rech­ten Arm auf das Nacht­tisch­schränk­chen und griff sich die Fern­be­die­nung. Und mit einem Schlag war sei­ne ent­spann­te Gelöst­heit weg. Der Kom­po­nist war tot. Und die Welt ärmer. In der Nacht, in der Her­mann so viel rei­cher gewor­den war.


Um den und ohne den Verstand

Es reich­te. Sie hielt es nicht mehr aus. Koch­te vor Wut. Ras­te vor Zorn. Sah nur noch flim­mern­de, blut­ro­te Krei­se vor den Augen, wischen­de Schlie­ren. Was für ein Honk! Mit sei­nem Ein­zeller-Intel­lekt. Sei­ner grad­li­ni­gen Stu­pi­di­tät. Sei­ner stu­ren Den­ke. Den­ke? Ein Stein war intel­lek­tu­ell beweg­li­cher. Der Typ brach­te sie um den Ver­stand, dar­um mach­te sie das­sel­be mit ihm ohne den Ver­stand. Schnell. Prä­zi­se. Unerbittlich.


Das Ende des letzten Briefes

Wahr­schein­lich war es ihr letz­ter Brief; in eini­gen Tagen soll­te sie ent­las­sen wer­den, sie hat­te etwas mehr als der Hälf­te der Stra­fe abge­ses­sen. Sie hat­ten sich in letz­ter Zeit immer inten­si­ver über Bücher und Fil­me aus­ge­tauscht und fest­ge­stellt, dass sie vie­le Gemein­sam­kei­ten hat­ten. Bei­de fan­den sie zum Bei­spiel Pulp Fic­tion groß­ar­tig. Um der Zen­sur zu ent­ge­hen, nann­ten sie ihn nur den „Film mit den vier Chap­tern“. Her­mann schwärm­te von den Dia­lo­gen, den Schau­spie­lern, und, wie er es der poten­ti­el­len Mit­le­ser wegen nen­nen muss­te, der Qua­li­tät der „Action­sze­nen“. Sie hin­ge­gen benutz­te den Film nur als Aus­gangs­punkt für ihr intel­lek­tu­el­les Kon­zept, das sie sich inzwi­schen erar­bei­tet hat­te, und in dem Begrif­fe wie „mul­ti­per­spek­ti­visch“, „Par­al­le­li­tät“, „Vir­tuo­si­tät beim per­ma­nen­ten Wech­sel von Zeit­ebe­nen, Hand­lungs­strän­gen und Schau­plät­zen“, „expo­nen­ti­el­les Den­ken“ und „Rela­ti­vie­rung von logi­schen Zeit­fol­gen“ vorkamen.

Her­mann hat­te im Lau­fe ihrer Brief­freund­schaft gelernt, ihre Gedan­ken­gän­ge bes­ser zu ver­ste­hen und sich auf sie zu ein­stel­len. Das Ende ihres Brie­fes aber kam über­ra­schend und war das Ende sei­ner Welt, so wie er sie bis jetzt kann­te: „Und das alles hast auch du zu einem Gesamt­kunst­werk zusam­men­ge­führt, als du mich damals über­führt hast. Für einen kur­zen Moment, die­sen einen Geis­tes­blitz, hast du dich intel­lek­tu­ell von dem linea­ren Den­ken befreit, das dich ansons­ten so behin­dert und bindet.“


Ein wei­te­rer Blitz durch­zuck­te Her­mann und schnitt ihn in Stü­cke. In einer Nano­se­kun­de brach alles zusam­men, alles Wis­sen, alle Erfah­run­gen, alles, was ihn bis jetzt defi­niert hat­te. In der glei­chen Zeit­span­ne bau­te sich etwas Mäch­ti­ges auf, groß und stark, noch ein biss­chen unscharf. Es fühl­te sich unend­lich gut an. „Viel­leicht kann sie mir hel­fen, es zu fin­den“, dach­te er



Epilog (auch Prolog)

Kein Fort­schritt ohne klei­ne Rück­fäl­le: Gele­gent­lich wähl­te Her­mann immer noch die 54732816, der Klar­heit wegen.